verbindlich + klein = ganz groß

Die Wikipedia schlägt permanent ihre eigenen Rekorde. Sie existiert nach 6 Jahren in 253 Sprachen. Wikipedia Argentinien wurde gerade als erste Organisation auf dem lateinamerikanischen Kontinent von der Wikimedia Foundation anerkannt. Sie fördert u.a. Wikipedias in Indígenasprachen wie Guaraní, Quechua, Aymara und Mapudungun. Die englische Variante hat derzeit ca 2.200.000 Einträge. Die Zugriffe liegen inzwischen bei ca 50.000 pro Sekunde! Genaue Zahlenangaben machen längst keinen Sinn mehr. Sie ändern sich stündlich. Aktuelle Statistiken gibt es hier.

Die Wikipedia wird in der kollektiven Vorstellung (und im Ergebnis) immer gigantischer. Und ist doch im Kern ganz klein…

Kleines Büro, kaum bezahltes Personal, kleine Spendenbeiträge, ein kleiner Eintrag hier, ein anderer dort. Auch die wikipedistas machen oft die Erfahrung, dass der Löwenanteil an Arbeit letztlich auf wenigen Schultern liegt. (Siehe den sehr lesenswerten Essay der Pulitzer-Preisträgerin Stacy Schiff mit Geschichte und Geschichten über die freie Enzyklopädie.)

Antonio Lafuente, vom Commonslaboratorium in Madrid, kommt nach einer Fachtagung zum Thema „Bürger produzieren neue Standards … aber wie?“ zu dem Schluss, dass die Gruppen, die hinter der Wikipedia stecken, in der Regel Kleinstgruppen sind, „die eher einer Rockband ähneln als einer „community von Nachbarn“ oder einer „intellektuellen Gemeinschaft“. Die Kooperation im Web 2.0 ist kein neuronales, kein urbanes Netz sondern eine Ansammlung von Minigrüppchen, die fieberhaft aktiv sind und so die Illusion erzeugen, sie seien ganz viele.

Das das so ist, hat seine Gründe. Es gibt so etwas wie eine Schallgrenze. Kannten Sie die Dunbar Nummer? Einhunderfünfzig. Kein Mensch könne zu mehr als ca 150 Leuten soziale Kontakte aufrecht halten, sagt der britische Anthropologe Robin Dunbar. Er leitet aus der Primatenforschung einen Zusammenhang ab zwischen der Größe des Neokortex und der Fähigkeit von Primaten, Gruppen zu stabilisieren. Ob das nun -empirisch nachweisbar- auf den Menschen übertragbar ist, darüber gibt es komplexe Debatten. Aber wenn ich mal in mich reinhorche, dann scheint mir 150 schon eine ganze Menge.

Auch Forscher, die sich mit der Funktionsweise von Gruppen im Computerzeitalter befassen, kommen zu dem Ergebnis, dass eine Gruppengröße zwischen 5 und 9, die Kreativität fördert. 4 neigen zur Paarbildung, 3 zur Ausgrenzung von Einem, der zuviel erscheint und 2 ist schon keine richtige Gruppe mehr. (Jörg, wir brauchen dringend noch 3 commonsblogger!). Bis maximal 15 ist noch vertretbar. Darüber hinaus muß zuviel Kraft in Strukturen und den Erhalt des Kollektivs investiert werden.

Die Zauberzahl ist 7. Das deckt sich mit den Forschungsergebnissen des Psychologen George Miller, der 1956 einen einflußreichen Essay veröffentlicht hat: The magical number seven: plus or minus two. Er sagt, dass das menschliche Bewusstsein durchschnittlich in der Lage ist, maximal 7 Elemente/ Informationseinheiten gleichzeitig „bewusst“ zu halten und zu verarbeiten.

Die wahre Größe der Wikipedia liegt nicht in den beeindruckenden Millionen, nicht in einer imaginären globalen wikipedia-community, sondern in der Kooperation basierend auf klein(st)en Einheiten. Für erfolgreiches Commonsmanagement (das uns allen zur Verfügung stehende Ergebnis, die online Enzyclopädie, ist ein common) sind kleine, überschaubare Gruppen von Personen, die miteinander kooperieren und sich aufeinander verlassen können, fast das Wichtigste. Das schafft Verbindlichkeit. Und Verbindlichkeit ist in der Commonsdebatte so magisch wie die Zahl 7 in Millers Theorie.

Der Aspekt der Freiwilligkeit, des Spaßes an der Sache bzw. an der Kreation (vgl. Linus Thorvalds: Just for fun. Wie ein Computerfreak die Welt revolutionierte + 1000 andere), und das selbstlose Geben-Wollen wird meines Erachtens überbetont in der Diskussion darüber, wie die unglaubliche digitale Produktivität zu erklären ist. Wichtiger scheint mir dies: Verbindlichkeit und Reziprozität. Deswegen ist small beautiful.

foto on flickr by losmininos

6 Gedanken zu „verbindlich + klein = ganz groß

  1. Offenheit ist schon auch noch wichtig. Wikipedia lebt nicht nur von dem „inner circle“ sondern vor allem auch von den Autoren die (zunächst) nur mal reinschnuppern und womöglich anonym Artikel einstellen und verbessern und das sind sehr viele. Der „inner circle“ ist hauptsächlich editorisch tätig. Es gibt dazu eine lange Debatte in der Wikipedia, aktuell vielleicht ganz interessant der Beitrag von Tim O’Reilly: http://radar.oreilly.com/archives/2008/01/wikipedia_community_publishing.html

  2. Danke für den Tip! Offenheit ist natürlich auch wichtig, aber gerade das schwindelerregende Wachstum hat ja auch die Grenzen deutlich gemacht. Der Artikel von Stiff beschreibt ganz gut, wie sukzessive zusätzliche Regeln eingeführt werden müssen, gerade um wichtige Prinzipien (wie Offenheit) nicht preis zu geben.
    Ich weiß das nicht für digitale Netze, aber in aktuellen Veröffentlichungen zu SES (social-ecological-systems) werden die Variablen die analysiert werden müssen, um die Funktionsweise von Systemen zu verstehen in 6 großen Gruppen zusammengefasst. Es werden in der Literatur mindestens 45 Faktoren benannt, die für’s Funktionieren oder Scheitern relevant sind (vgl. Ostrom: A diagnostic approach for going beyond panacea, PNAS, Sept. 25 2007 no 39.)

  3. Gibt es eigentlich schon vernünftige Meinungen zur Qualität der Wikipedia gerade im Hinblick auf die Zitierfähigkeit? Mal davon abgesehen, das normale Enzyklopädien oder Lehrbücher auch nicht gerade unbedingt als die Beste Quelle angesehen werden können (siehe u.a. http://www.wdr.de/radio/wdr2/quintessenz/406744.phtml und http://www.test.de/filestore/kommentartext.pdf?path=/23/51/5a46f728-1859-406a-a29f-2dd4743958ac-Kommentar.pdf&key=C24A55E4EEE2F0E47DC0157EEDF98B7BE11EE582). Bei den Juristen ist die Wikipedia verboten und gilt gar nicht erst als Quelle, bei den Informatikern hat es mindestens einen faden Beigeschmack.

  4. Selbst Jimmy Wales sagt ja: Bitte nicht zitieren. Die Wikipedia ist m.E. für wissenschaftliche Arbeiten deshalb nicht zitierbar, weil die Einträge ständig verändert werden können, v.a. aber weil die Artikel keiner Autorin/keinem Autor zugeschrieben werden können. Und wenn Du keinen Verfasser angeben kannst, kannst Du zitieren.

  5. So weit ich weiß ist zitieren aus Enzyklopädien unter Wissenschaftlern sowieso schlechter Stil. Enzyklopädien sollten ja nur das zusammenfassen, was in Originalartikeln zu finden ist, deswegen zitiert man wissenschaftlich üblicherweise nicht die Wikipedia oder den Brockhaus sondern den entsprechenden Originalartikel. Den findet man ja auch immer öfter bei Wikipedia.

  6. Pingback: Freiheit ist, was folgt. Für ein Leben in Verantwortung — Rette sich wer kann!

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