So meint er es doch, oder? Nachzulesen in diesem Interview von Robert Misik mit Peter Sloterdijk. Zwei Stellen fand ich für dieses Blog hervorhebenswert.
„Sloterdijk: Der Neoliberalismus hatte das ideologische Verdienst, die schamhafte Maske vor dem Konsumismus fallen zu lassen, er hat ihn geradewegs zum zentralen Lebensmotiv erklärt.
Misik: Was ist da in den vergangenen fünfzehn, zwanzig Jahren passiert?
Sloterdijk: Man hat uns in ein psychopolitisches Großexperiment über Frivolität verwickelt – aber was auf dem Programm stand, war nicht mehr aristokratische Frivolität, sondern Massenfrivolität, Leichtsinn und Egoismus für jeden. Man hat in dieser Zeit behauptet, Gemeinwohldenken sei gescheitert. Also blieb der Asozialismus, den wir höflicherweise Individualismus genannt haben, um uns mit besseren Gefühlen zu ihm zu bekennen. Doch was sind konsequente Individualisten? Es sind Menschen, die ein Experiment darüber veranstalten, wie weit man beim Überflüssigmachen sozialer Beziehungen gehen kann. …
Misik: Kommt jetzt der alte, verstaubte Begriff „Gemeinwohl“ zurück?
Sloterdijk: In der Sache ja, aber auf der Ebene des Begriffs muss man tiefer ansetzen. Das Wort „Gemeinwohl“ ist mit zuviel idealistischen, also betrugsverdächtigen Elementen belastet – man kann 200 Jahre Ideologiekritik nicht einfach vergessen machen. Wo Idealismus war, muss Realismus kommen. Gemeinwohlgesinnung ist unwahrscheinlich – ich muss also zeigen können, wie das Unwahrscheinliche wahrscheinlich wird. Genau das versuche ich in meinem Buch mit den Argumenten, die das Konzept Ko-Immunismus begründen. Wenn wir beweisen, dass wir das Eigene und das Fremde systematisch falsch unterscheiden, weil wir zu klein definierte Egoismusformate haben, so würde daraus folgen, dass wir ein größeres inklusiveres Eigenes schaffen müssen – nicht aus Idealismus, sondern aus wohlverstandenem weitsichtigem eigenen Interesse.“
Misik: Das heißt ja Gemeinwohl: Dass Kooperation mit Anderen nicht Altruismus ist, sondern zu meinem eigenen Nutzen.
Sloterdijk: Schon, aber das muss bewiesen werden. Unter Siegertypen gab es seit jeher die stille Überzeugung: Nur Verlierer kooperieren. Tatsächlich, solange der Sieger alles nimmt, ist Solidarität eine Verliererparole. Wir werden beweisen müssen, dass das falsch ist.“
Hat schon jemand sein neues Buch gelesen und kann mir sagen, ob und warum es sich lohnt, sich mit Schöpfungen wie dem Ko-Immunismus auseinanderzusetzen? Das klingt alles verdammt nach einer Ethik der Commons – für die wir ja auch noch kein einfaches deutsches Wort gefunden haben.
Dieser Gedanke der „zu klein definierten Egoismusformate“ scheint mir hilfreich für unsere Diskussion. Am Ende stellt sich heraus, dass der Hardinsche Herdenbesitzer einem großen Missverständnis aufgesessen ist. Er hat es missverstanden, sein Eigeninteresse angemessen zu definieren. So einfach ist es.
Wo Sloterdijk vom „größeren inklusiveren Eigenen“ spricht, sprechen wir von Bindung, vom Mitbesitz an Gemeingüter und manchmal – ganz alt und verstaubt – von Gemeinschaft. Fakt ist, wir sind Teil eines komplexen Systems zwischen den Dingen, den anderen und uns. Geht das System unter, gehen wir mit.
misik kommt nach weimar dieser tage – weißt du aber vermutlich bereits…!?
Die Idee von Sloterdijk ist gut, doch wie so oft gibt es da nichts neues zu erfinden, sondern wieder zu entdecken: In der Kritischen Psychologie wurde das, was Sloterdijk vorschwebt, geleistet — ist nur halt schon länger her (~25 Jahre).
Das Erkennen fängt dann damit an, dass wir jeden Tag kooperieren, denn eine Gesellschaft ohne Kooperation wäre keine. Kooperation ist also kein add-on oder keine Sache der »Verlierer«, sondern von allen und zwar jeden Tag. Die Frage ist nur wie wir das tun.
Da führt die Idee der »zu klein definierten Egoismusformate« (etwas verschwurbelt formuliert) in genau die richtige Richtung, nämlich die der »Selbstentfaltung«, bei der die Entfaltung der jeweils anderen die Voraussetzung für die eigene Entfaltung ist (und umgekehrt). Die Möglichkeit der Selbstentfaltung ist jedoch keine individuelle Eigenschaft, sondern Grundausstattung des Menschen. Was es braucht, sind die richtigen Rahmenbedingungen, um die Potenz auch zum Faktischen werden zu lassen — und dass gibt es in unserer Gesellschaft nur in Sonderbereichen (etwa teilweise der Freien Software). Das, fürchte ich, kann der Sloterdijk dann nicht mehr denken — aber ich habe hier gerne Unrecht.
Und: Ja, der Hardinsche Herdenbesitzer hat sich selbst geschadet, weil er nicht vorausgeschaut und den Zusammenhang zu den anderer gleich seiner selbst (also letztlich zu sich) begriffen hat. Doch Vorschau und Zusammenhangsdenken braucht auch die strukturelle Möglichkeit, dass tun und dann nach der Einsicht handeln zu können. Das funktioniert bei selbstläuferischen, uns fremd gegenüberstehenden Mechanismen wie der kapitalistischen Marktlogik nur sehr schwer bis gar nicht mehr.
Ich finde es gut, dass du in diesem Zusammenhang auf die Kritische Psychologie hinweist. Die zentrale Kategorie der Handlungsfähigkeit kann meiner Meinung nach immer noch sehr gut zur Analyse der individuellen Möglichkeitsräume herangezogen werden.
Das Schöne an dem subjektwissenschaftlichen Ansatz ist zudem, dass die Begriffe nicht normativ gesehen werden, sondern vielmehr als Analysemittel für je meine Situation.
Trotzdem bleibt festzuhalten, dass „die strukturelle Möglichkeit, dass tun und dann nach der Einsicht handeln zu können“ auch unter den schlimmsten kapitalistischen Verhältnissen prinzipiell immer bestehen bleibt. Die Möglichkeitsräume sind zwar eingeschränkt sein, trotzdem habe ich als Individuum immer die Wahl („das bewußte Verhalten zu“), ich kann so Handeln, dass ich kurzfristig Erfolg habe und mir längerfristig selber schade, oder ich kann versuchen den verallgemeinerten Weg einzuschlagen, von dem ich u.U. erst längerfristig profitiere. Die verallgemeinerte Handlungsalternative verweist ja gerade auf die Veränderung der restriktiven Verhältnisse, insofern kann dieser Ansatz auch als Analysemittel für die Herdenproblematik dienen.
Sloterdijk der alter Phrasendrechsler! Erst setzt er Individualismus mit Asozialismus gleich dann plötzlich hat das individuelle Ego doch eine soziale Dimension, was seit Marx Wort vom „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ eigentlich kein Geheimnis sein sollte. Beides formuliert der Herr Großphilosoph so, als sei es seine ganz neue und super originelle Ideenschöpfung. Dabei ist es nicht mehr als gepflegtes Stammtischlern. Genau wie bei den bierseeligen Herumdeutern an diversen Volkscharakteren kommen hier soziale Verhältnisse als von den Individuen vorgefundene Behauptungsbedingungen nicht vor. Kritisiert oder „entdeckt“ werden nur – mehr oder minder soziale – Privateigenschaften. Genau dieses Absehen von den konkreten Behauptungsbedigungungen der Individuen ist eine „asoziale“ Betrachtung. Hardins Viehtreiber würde auch nicht deshalb aufhören, sich letztlich selbst zu schaden, weil er plötzlich eine geniale Eingebung hat und sich urplötzlich ein neues Ego nach den Grundsätzen der Nachhaltigkeit zulegen möchte, sondern weil er in soziale Beziehungen eingebunden ist, die ihr Zusammenwirken auf eine intelligente Weise regeln.
Gruß hh