Wir bewegen uns merkwürdig durch die Zeit. Der offizielle UN-Gipfel zur Nachhaltigen Entwicklung war schon vorbei, bevor er überhaupt anfing. Er begann am 20. Juni und war am 19. Juni bereits gelaufen. Und auf dem People’s Summit redeten wir über „Beyond Rio+20“, kaum dass Rio+20 auch nur wahrgenommen werden konnte. Die großen Umweltorganisationen sind angesichts der vorzeitig abgenickten Abschlusserklärung des UN-Gipfels frustriert bis schockiert, was ich angesichts der Energie und Ressourcen, die sie in diese Prozesse stecken – und vor allem wegen der brennenden Hoffnung auf Veränderung – sehr gut verstehen kann. Aber nüchtern betrachtet frage ich mich: Warum sollten wir frustriert sein?
Vor 20 Jahren haben alle die historischen Beschlüsse des Erdgipfels in Rio gefeiert. Passiert ist nichts. Jedenfalls nicht das Richtige. Heute bedauern alle den ‚Konsens auf dem kleinstem gemeinsamen Nenner‘. Und passieren wird nichts. Jedenfalls nicht das Richtige. Nicht in diesem System. Wo genau ist der Unterschied? Wer genau hinschaut und die wachstumsabhängige Produktionslogik einerseits sowie die wirtschaftsabhängige politische Logik andererseits als Realität erkennt, der wird sich über das Ende von Rio+20 nicht wundern.
Vor dem rappelvollen „Versammlung der Völker“ – an der gefühlte 10.000 Leute teilnahmen – die meisten davon in grün (Via Campesina) und rot (MST) – sitze ich in einer Runde, die der ehemalige bolivianische UN-Botschafter Pablo Solón kurzfristig einberufen hat. Einer der für mich interessantesten Redebeiträge… kam dort von dem französischen Soziologen François Houtard. Die Frage, um die es geht, ist spätestens seit Lenin sprichwörtlich: Was tun?
Erstens, die Ursachen und nicht nur die Wirkungen analysieren, sagt Houtard. Zweitens, Netzwerk aufbauen und drittens endlich einen Schritt weiter gehen und zu gemeinsamen Aktionen kommen. Schließlich ginge es um’s Ganze, doch heute habe jede soziale Bewegung und jedes Netzwerk ein Lieblingsthema statt sich als Teil des Ganzen wahrzunehmen und eine adäquate Beschreibung desselben zu entwickeln. Dies erfordere intellektuelle Arbeit, in der sich soziale Bewegungen und Intellektuelle zusammenfinden müssen. Wie wahr.
Da die kapitalistische Logik selbst das Problem sei, müsse es in erster Linie darum gehen, ihr ein anderes Paradigma gegenüber zu stellen. Houtard formuliert vier Kriterien für dieses Paradigma.
1. Unsere Beziehung zur Natur muss vom Respekt oder – wie man im Andenraum sagt – von der Anerkennung des Rechts der Mutter Erde geprägt sein. Das habe enorme Konsequenzen, etwa die Unmöglichkeit von Privateigentum an natürlichen Ressourcen.
2. Es muss die materielle Grundlage unseres Lebens (re-)produzieren und das beinhalte die Abwendung von Tauschwert und die Konzentration auf den Gebrauchswert.
3. Es muss die Demokratie verallgemeinern. Und zwar in allen Lebensbereichen, nicht nur in der Politik.
4. Es muss interkulturell sein und darf Diversität nicht einebnen.
Wir könnten das Common Good nennen, Gemeinwohl, Gutes Leben oder sonstwie. All dies seien nur Worte, findet Houtard. Klar müsse nur sein, dass es um mehr gehe als um ein Erbe. Es geht um etwas Lebendiges, das schon überall in der Welt existiert. Ich nenne es Commons. Houtard nennt es Common Good. Doch beides sind nur Wörter. Um sie zu ringen ist freilich wichtig, denn wir brauchen für gemeinsame, handlungsorientierte Plattformen eine verbindende Sprache, die eine logische und konsistente Analyse fassen kann.
Houtard schlägt eine Universal Declaration on the Common Good of Humanity vor. Sie soll nächstes Jahr auf dem Weltsozialforum in Tunesien eine breite Aufmerksamkeit erfahren und bis dahin diskutiert werden. Obwohl ich die Kriterien richtig gut finde, ist die bisherige Vorlage defensiv. Schlimmer noch, sie ist ge- und verbotsorientiert. Alles was die Natur schädigt und soziale Ungleichheit erzeugt wird verboten. Hmmm, das reicht wohl nicht. Unsere Alternativen müssen attraktiver sein und sich von der Idee verabschieden, dass der Staat schon das richtige ge- und verbietet. Das wird er nämlich nicht tun, wie Rio+20 gezeigt hat.
Hervé Le Crosnier aus Frankreich, Koautor unseres Buches, sitzt neben mir. Auch wer will konkret werden und meint, wir könnten uns auf eine New Narrative for a Free World verständigen. Eine Erzählung, die alle verbindet und von allen aus der je eigenen Praxis heraus gefüllt und belebt werden kann. Eine Erzählung, ergänzt eine Südafrikanerin, die auf der Ubuntu-Idee basiere: Ich bin weil Du bist.
Der Wunsch, in diese Richtung weiterzudenken, ist allgegenwärtig, denn es ermüdet und es frustriert, alternative Gipfel in den Rhythmen von offiziellen Gipfeln zu planen, die schon vorbei sind, bevor sie überhaupt angefangen haben.
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