Es ist Montag, der 22. April 2013 um 19 Uhr. Soeben wurde der Jurist Stefano Rodotà, der Präsidentschaftskandidat des MoVimiento 5 Stelle, mit 506 Stimmen (2 mehr als nötig) zum Präsidenten Italiens gewählt. Ein Paukenschlag in diesem krisengeschüttelten Land. Und ein unfassbarer Gewinn für die Commonsbewegung weltweit.
Zehn Wahlgänge waren nötig. Erst im Verlaufe des Wochenendes erhielt Rodotà zunehmend „Schützenhilfe“. In der entscheidenden Abstimmung unterstützte ihn ein Großteil der vor Tagen implodierten PD.* Die traditionelle Linke zerlegt sich bekanntlich gern selbst. Aber wenn jemand in der Lage ist, „links“ neu zu denken, dann der knapp 80-jährige Rodotà. Dass er den Schreibtisch im Quirinalspalast bekommen könnte, war den deutschen Medien weitgehend entgangen. Sie verfolgten die holprig verlaufenden Präsidentschaftswahlen mit verhaltenem analytischem Eifer und verhackstückten Nachrichtendienstmeldungen. Über Rodotà jedenfalls las man in den hiesigen Medien wenig. Die Stuttgarter Zeitung schrieb: Viele Namen aber kein Favorit. Nun, mein Favorit ist Stefano Rodotà. …
Und damit zurück in die Gegenwart. Noch ist nicht Montag und es käme einem politischen Wunder gleich, wenn #RodotàPresidente nicht nur ein Fiktion bliebe. Doch verrückte Verhältnisse ver-rücken auch manchmal die Verhältnisse. Noch gestern hatte ich getwittert,… dass der Gedanke, Rodotà würde tatsächlich Präsident, wohl eher ins Reich der Träume gehört und mit der Wahl von Romano Prodi am Freitag Nachmittag ausgeträumt sei. Stattdessen fiel Prodi durch, der entsprechende Parteichef (Bersani) trat zurück und Prodi nicht mehr an. Das Rennen ist wieder offen.
Rodotà habe ich zum ersten Mal vor etwa zwei Jahren anlässlich einer europäischen Veranstaltung zu Commons und Grundeinkommen im traditionsreichen Teatro Valle gehört. Das Theater in der Altstadt Roms war bereits seit Monaten besetzt und von der Belegschaft als „Common“ reklamiert. Seitdem ist es auch ein Ort politischer Debatte geworden. Vor einer Woche fand eben dort die „verfassungsgebende Versammlung zu Gemeingütern“ statt. Rodotà spielt dabei eine wichtige Rolle. Er ist ein exzellenter Kenner der Ideengeschichte und des Verfassungsrechts, hat Parlamentserfahrung in Italien und Europa und nie aufgehört Wissenschaftler und Aktivist zugleich zu sein. Rodotà ist vor allem eins: Er selbst. Er versteht seine Kandidatur nicht als Verpflichtung gegenüber einer Partei oder einem politischen Schachzug („ich wurde nicht von Beppe Grillo ausgewählt„), sondern als Verpflichtung gegenüber der Verfassung, seinem Gewissen (das glaube ich tatsächlich), den Menschenrechten und … den Commons. Er hat seine Kraft unter anderem für das spektakuläre Wasserreferendum „Acqua bene comune“ eingesetzt, das Anfang 2011 sage und schreibe 27 Millionen Unterschriften zusammentragen konnte.
Er versteht Commons in erster Linie als selbstbestimmtere Governanceform für das, was niemandem allein gehören sollte; Rodotà argumentiert, dass der liberale Konstitutionalismus gar nicht darauf zugeschnitten ist, etwas als „das Gemeinsame“ zu verteidigen, weist aber zugleich (ganz pragmatisch) darauf hin, dass es in den Verfassungen und Gesetzen (auch auf europäischer Ebene) Anknüpfungspunkte gibt, die wir nutzen müssen. So etwa Artikel 43 der italienischen Verfassung, die die gemeinschaftlichen Verwaltung kollektiver Ressourcen zum Gegenstand hat. Und dass insbesondere die Entwicklung der Grundrechtsdebatte seit der Weimarer Republik unseren Begriff von Staat geprägt habe, was nicht einfach einem „ohne Markt und Staat“ preiszugeben sei. Dieses Wissen stärkt die Bewegung. Zugleich wäre Rodotà einer der Vordenker und Architektinnen eines Rechtssystems, dass auf anderen Grundkategorien beruht. Kurz: Er kann den Paradigmenwechsels denken.
Vor einigen Monaten haben wir gemeinsam einen intensiven Commons-Workshop in der Nähe von Paris erlebt. Stuhlkreis. Alle auf Augenhöhe. Trotz dieser Biographie. Und auch wenn ich die Kritik an der politischen Gerontokratie verstehe (fast 80?); bei Rodotà mache ich eine Ausnahme: die Aufmerksamkeit und Präzision, die Belesenheit und Offenheit, insbesondere aber die Warmherzigkeit und Bescheidenheit von Stefano Rodotà haben mich immens beeindruckt. Ich empfand es als großes Privileg, dass er diese Einladung angenommen hat. Während des Workshops erfolgte der obligatorische Bücheraustausch, The Wealth of the Commons landete in seinem Reisegepäck. Es hat nicht lang gedauert, da schickte er uns einen neuen Artikel, in dem er das Buch zum Aufhänger macht.
Der Commonsdiskurs verbindet die Themen Grundrechte, Demokratie, Teilhabe, Wissen als Gemeingut, Nachhaltigkeit im Umgang mit natürlicher Ressourcen und einiges mehr- jenseits von Markt und Staat wie wir sie kennen. Ein Commoner im Quirinale wäre ein Mensch, der dies zusammen denken kann. Mehr noch, er müsste politisch so zukunftsorientiert und geistig so rege sein, dieses Zusammendenken zu systematisieren und zu versprachlichen. Stefano Rodotà ist solch ein Mensch. Und davon gibt es nur wenige und noch viel weniger in der Politik.
Vielleicht ver-rücken ja die verrückten politischen Verhältnisse in Italien wirklich etwas. Vielleicht wird Rodotà tatsächlich „il presidente di tutti„. In Kürze werden wir das wissen.
PS. ich habe mich auf italienische Medien oder Blogs stützen müssen, daher führen einige Links zu italienischen Seiten unter anderem auch diese humoristische Einlage:
* Das Drama ist ja, dass die traditionelle Linke, sich nicht durchringen kann, Rodotà zu unterstützen (ja, ich meine Rodotà und nicht Grillo). Darüber machen sich ein paar Leute Gedanken: Warum sagt die PD „Nein‘ zu Rodotà: Eine der Antworten: „Sie könnte dann riskieren zu gewinnen.“
Update: 20. April, 23 Uhr: Napolitano ist es geworden. Nochmal. Eigentlich wollte er nicht mehr. Aber verrückt genug um was zu ver-rücken war er auch nicht.
Glückwunsch Frau Helfrich,
ich lese mit großem Interesse seit Monaten Ihren CommonsBlog und bin begeistert.
Ich selbst habe mich seit Jahrzehnten mit dem Thema „öffentliche Forstwirtschaft“ beschäftigt und komme als Forstmann und aktiver Naturschützer zu eigenen Einsichten,
die Ihren Zielen nicht zu weit entfernt liegen, aber doch im Rechtssinne eine Privatisierung darstellen. Ich habe 2010 für den NABU ein Gutsachten unter der Überschrift
„Bürgerwald“ verfasst. Siehe Link
Klicke, um auf das_nrw_buergerwaldkonzept.pdf zuzugreifen
Hintergrund meiner Thesen sind die lebenslangen und sich jüngst verschärfenden Einsichten, dass der Wald auch in öffentlichen Hand mitunter sogar schlechter behandelt wird als in privater Hand alter Adelsfamilien. Politik und Bürokraten sind leider auch keine Garantie für umfassende Nachhaltigkeit. Immerhin hat sich in remscheid – wohl auch als Folge meines Gutschtens – jüngst eine erste Waldgenossenschaft (neuen Rechts) gebildet
Vielleicht finden Sie ja mal Zeit einen Blick hineinzuwerfen und mir Ihre Kritik kurz mitzuteilen.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Wilhelm Bode
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Telefon: +49 3831 3092994 Mobil: +49 172 6706206 E-mail: wilh.bode@googlemail.com ******************************************************************
Vielen Dank, Herr Bode! Auf das Thema Wald werde ich immer mal wieder angesprochen, das nächste Mal verweise ich einfach an Sie 😉 Ja, commonsbasierte Lösungen stellen nicht selten „im Rechtssinne“ eine Privatisierung da. Das hat auch damit zu tun, dass wir von einer Eigentumsgesellschaft umgeben sind. Haben Sie auch eine Kurzfassung Ihres Papers? Ich blättere mich etwas ungern durch gut 300 Seiten am Bildschirm. mail an info@commonsblog.de
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