Weltsozialforum 2013 in Tunis: Auf dem Weg zu TATA

TATA: There Are Thousand Alternatives. Und diskutiert werden sie unter anderem auf den verschiedenen Sozialforen. Das kommende Weltsozialforum (WSF) findet vom 26. bis 30. März 2013 in Tunesien statt, dh morgen geht’s los. Ich bin bereits vor Ort, weil Sozialforen dazu da sind, gemeinsam etwas auf die Beine zu stellen. Durch ein Mapping-Projekt, Bestandteil des mal wieder gigantisch unübersichtlichen WSF-Programms, wollen wir mit vielen internationalen Organisationen versuchen, die Themen sozialer Bewegungen sowie ihre Debatten über alternative Paradigmen zu erfassen und zueinander in Beziehung zu setzen. Das Projekt ist aus diesem Prozess hervorgegangen und ich bin dabei, um „Commonsperspektive“ einzubringen. Nicht einfach, denn nach wie vor stehen die „Gemein-Güter“ im Mittelpunkt, die Verteidigung, der Schutz, die Defensive derselben. Das verwundert angesichts der Härte der Auseinandersetzungen um Land, Wasser, Bergbau, Biodiversität und vieles mehr überhaupt nicht. Aber es geht darum, Commons als alternatives Governance-Paradigma, als Weltsicht, soziale Praxis und vielfach produktive Prozesse in den Blick zu rücken. Deswegen also bin ich hier.

Mit Chico Withaker im Januar 2012, Porto Alegre

Mit Chico Withaker im Januar 2012, Porto Alegre

Das Forum findet zum vierten Mal in Afrika statt und wird damit andere Schwerpunkte als jene, die europäische Zeitungen beschäftigen. Darüber hat unser Gastautor Benjamin Bunk mit einem der Vordenker des Sozialforums gesprochen, Chico Whitaker, u.a. geehrt mit dem Alternativen Nobelpreises. Chico ist jung geblieben, streitlustig und zugewandt. (Siehe Foto, das ist im vergangenen Jahr in Porto Alegre entstanden.)

Oft wird das WSF noch als Gegenveranstaltung zum Weltwirtschaftsforum betrachtet, doch es war schon immer mehr. Gerade der diesjährige Veranstaltungsort zeigt das. Seit den Revolutionen in Libyen, Tunesien oder Ägypten sind diese Länder unterschiedliche Wege gegangen. Indem das Forum der Einladung in die Maghreb/Mashrek-Region folgt und die Aufmerksamkeit der Sozialen Bewegungen, NGOs und Medien in diese Region lenkt,

„trennt es sich von den eher eingefahrenen Gleisen in Brasilien, wo soziale Bewegungen eher gut organisiert sind, wo die Veranstalter teilweise erhebliche Unterstützung bei Lokalregierungen (PT) gefunden haben“, schreibt Benjamin Bunk.

Er meint zudem, der Schritt nach Tunis sei „eine Fremdheitserfahrung für das Forum und manch linkes oder vermeintlich aufgeklärtes Selbstverständnis.“ „Dabei geht es weniger um die Spannung zwischen revolutionärem Handeln von Bewegungen und dem deliberativen Forum. Vielmehr geht es darum, dass das Weltsozialforum und dessen Diskurse bisher noch nicht global sind. Es wird eine Begegnung der globalen Systemkritiker mit den Forderungen des Arabischen Frühlings. Säkulare Ideen und Feminismus treffen auf den politischen Islam. Das ist gut!“

Es wird also anders in Tunis, und spannend; ich muss allerdings damit rechnen, nicht allzu viel davon zu erleben, denn wer im WSF in eigene Prozesse eingespannt ist, verpasst im Wortsinn alles andere. Aber ich glaube, dass wir mit der Commons-Diskussion ein Stück dazu beitragen können, diese alternativen Diskurse zu globalisieren ohne sie zu entlokalisieren. Zu dumm nur, dass ich kein Arabisch spreche…

Jetzt aber gehört das Wort Chico Whitaker und Benjamin Bunk:

Weltsozialforum 2013 in Tunis: Auf dem Weg zu einer anderen Welt

Ein Gespräch mit Chico Whitaker über das Weltsozialforum, Demokratisierungsprozesse in Afrika und Hoffnung in Krisenzeiten

von Benjamin Bunk

Das nachfolgende Interview zeigt Auszüge eines Gesprächs mit Chico Whitaker über ein Weltsozialforum in Bewegung. Es entstand am 11. Februar 2011 in Dakar, Senegal − unter dem Eindruck der zeitgleichen Umbrüche in Tunesien und Ägypten und einer sich ausweitenden Finanzkrise. Es erläutert eben jene entwicklungspolitische Bedeutung des Forums, die es 2013 nach Tunesien führt und verweist auf dessen Funktion im lokalen wie globalen Wandel. In einigen Kommentaren werden aktuelle Hintergründe zu Tunis 2013 ergänzt.

Withaker Ferreira war in den 80er Jahren Geschäftsführer der Kommission für Gerechtigkeit und Frieden der brasilianischen Bischofskonferenz (CNBB), später als Politiker der brasilianischen Arbeiterpartei (PT) aktiv und unter anderem Mitglied im World Future Council (Bonn). In dem Gespräch über das ‚Weltsozialforum in Bewegung‘ offenbart er zugleich einen Einblick in Denken und Haltung eines Aktivisten, der durch die Befreiungstheologie geprägt wurde.

Interview: Benjamin Bunk; Übersetzung: Benjamin Bunk, Katiuscia Dier Francisco, Anna-Maria Krüger

Lieber Chico, wir sind auf dem Weltsozialforum 2011 in Dakar. Vor wenigen Tagen gab es erste Erfolgsmeldungen aus Tunesien. Das Gerücht, dass Mubarak Ägypten verlassen habe, hat heute das Forum elektrisiert. Welche Bedeutung haben solche Ereignisse, wenn wir über die Zukunft des Forums sprechen?

Wenn wir über die Zukunft des Forums sprechen, reden wir von einer Evolution. Es gibt einen inneren Lernprozess seit dem ersten Forum. Doch auch die Welt hat sich extrem gewandelt. Das müssen wir berücksichtigen, wenn wir über die Zukunft des Forums nachdenken. Gleichzeitig ist diese Welt und ihr Wandel nicht einheitlich.

Nehmen wir das Beispiel Tunesiens oder Ägyptens: Was wollen diese Menschen? Sie fordern schlicht das Recht ihren Präsidenten oder ihre Regierung wählen zu dürfen. Jene Regierung, die sie zuvor hatten, hat ihre Probleme nicht gelöst. Sie hoffen jemanden wählen zu können, der Ihnen hillft Lösungen zu finden. Aber das ist doch bloß ein erster Schritt auf dem Weg, wohin sie wirklich wollen. Denn selbst wenn sie jemanden wählen würden, der sich ehrlich der Lösung ihrer Probleme widmet, bleibt ungewiss, ob er die Probleme auch lösen kann.1

Auch hier auf dem Forum gab es seit seiner Gründung intensive Debatten über die Notwendigkeit die Macht zu ergreifen, und dass das Forum nicht zielführend sei. Aber welche Macht? Die politische Macht – das wäre vielleicht möglich, zumindest in einem Land. Aber wie übernimmt man die globale politische Macht? Wie übernimmt man ökonomische Macht? Wie entgeht man auf globaler Ebene einer kulturellen Herrschaft oder der Ökonomisierung der Lebenswelt? Ohne Zweifel ereignet sich ein Umbruch in Tunesien jetzt. Aber allein die Wahlen ändern noch nicht die Situation der Menschen dort. Und die Situation in Indien, Japan oder hier im Senegal ist schon wieder eine ganz andere. Dennoch versucht das Forum auf all diese Prozesse eine Antwort zu geben.

Als 2001 das Weltsozialforum gegründet wurde, standen wir der Haltung gegenüber, „There is no Alternative“, wie Margaret Thatcher sagte. All unsere Probleme wären durch Marktmechanismen zu lösen. Punkt! Oder, wie Francis Fukuyama gar behauptete, wir seien am „Ende der Geschichte“ angekommen. Es würde sich nicht mehr lohnen, andere Sozialstrukturen oder ökonomische Modelle in Betracht zu ziehen. Der Markt und der Kapitalismus regeln alles. Alles ist wunderbar!

Doch offensichtlich sind die Menschen dieses Modells überdrüßig und mit der Situation unzufrieden. Die globale Zivilgesellschaft begann sich zu organisieren und es fanden Veranstaltungen wie die in Seattle statt. Diese offenbarten die Ratlosigkeit der Leute ebenso wie deren Potential für soziale und politische Veränderungen. Und für uns, die Gründer des Forums, ergab sich die Chance zu sagen: „Was wir in diesen Zeiten brauchen ist Hoffnung!“ Und diese Hoffnung inspirierte zu dem Satz „Eine andere Welt ist möglich“. Die Idee eines riesigen Treffens entstand. So einfach ist das.

Es gab Bewegungen und Organisationen überall auf der Welt, die alle auf verschiedene Weise versuchten, die ökonomische Globalisierung zu überwinden … wir luden sie ein und waren sehr überrascht, wie viele Menschen unserem Aufruf folgten. Folglich mussten wir überlegen, „Wie“ wir uns begegnen wollen. Die Regeln und Art und Weise des Treffens war der entscheidende Diskussionspunkt zu Beginn. Wir stellten uns ein Plenum vor, auf dem jede/r sagen kann, was sie oder er möchte. Auf diese Weise würden wir voneinander lernen, gemeinsam handeln und Gemeinsamkeiten aufbauen. So entstand die Idee des ‚offenen Raums‘. Da wir viele, und sehr unterschiedliche Menschen waren, war es notwendig, diese Heterogenität zu respektieren.

Noch eine weitere Erfahrung prägte dieses erste Treffen. Die Leute spürten, dass sie gemeinsam starkwaren. Sie sagten: „Wir sind stark, lasst uns noch mehr vereinigen, lasst uns eine globale Bewegung entfachen.“ Doch damit einher ging auch das Bewusstsein, dass wir zuerst tragfähige Beziehungen aufbauen müssen. Weder wir noch die Welt sind schon für einen Wandel bereit, aber „eine andere Welt ist möglich.“

Das Forum findet zum dritten Mal in Afrika statt (2011). Wie steht das Forum mit lokaler Zivilgesellschaft und Demokratisierungsprozessen wie in Tunesien und Ägypten in Beziehung?

Um ehrlich zu sein, sind dies zwei verschiedene Dinge. Die Wahl des Ortes ist eine lokale Entscheidung, es ist nicht der internationale Rat des Forums (International Council, IC), der eine strategische Entscheidung trifft. Der Vorschlag oder Wunsch ein Forum durchzuführen geht von den lokalen Organisationen und Bewegungen aus.2

Andererseits gibt es eine Voraussetzung. Jedes Forum muss ein Raum sein, in welchem sich soziale Kämpfe entwickeln und zum Ausdruck kommen. Dies geschieht hier in Afrika. Indem das Forum durch seine Präsenz solche Prozesse anregt und fördert, offenbart es seine Bedeutung für regionale Demokratisierungsprozesse. Letztlich aber sind es die lokalen Akteure, welche das jeweilige Forum organisieren und gestalten. Es gibt keine brasilianische oder internationale Organisation Namens Weltsozialforum, die in ein anderes Land kommt und dort all das aufbaut, was ein Forum im Inneren ausmacht – es braucht eine Bewegung oder einen Prozess vor Ort der diese Art Veranstaltung durchführen und gestalten möchte.

Um die Beziehung zwischen dem Forum und demokratischen Prozessen zu verstehen, ist es hilfreich, den Werdegang und Entwicklung des Forums selbst zu betrachten. Seit seinem Beginn, im Jahr 2001, gab es die Idee, das Forum in anderen Ländern zu verwirklichen. Indien war der erste Ort, der für ein Forum in Betracht kam. Abgesehen von der Größe des Landes, haben auch die dortigen zivilgesellschaftlichen Bewegungen eine unglaubliche Kraft und sind zugleich extrem gespalten. Dies schien ein geeigneter Ort, um Erfahrungen über den Zusammenhalt, Unterschiede und Vielfalt zu bilden. Das ist eines der Ziele des Forums.

Natürlich gab es auch Gespräche mit uns, bevor die lokalen indischen Organisationen sich entschlossen, ein Forum zu gestalten.3 Vor allem aber gab es einen intensiven Beratungsprozess untereinander. Das war für sie die große Überaschung und Herausforderung. Sehr aufmerksam wurde darauf geachtet, diesen Prozess so partizipativ wie möglich zu gestalten. Es gab ein lokales Forum – mit hunderten von Problemen im Hinblick auf die Frage nach Einheit und Offenheit. Aber so schwer es auch war: der Entschluss, ein Weltsozialforum durchzuführen, wurde gemeinsam getroffen. Dieses Bekenntnis und die Hingabe zu diesem gemeinschaftlichen Prozess war das eigentlich spannende. Auch für die lokalen Organisationen und Bewegungen war die Tatsache, dass sie alle in dieser Heterogenität versammelt waren etwas Neues und die größte Errungenschaft des Forums. Leider aber hat sich diese Gemeinschaft bald wieder aufgelöst.

Seither gab es durch den IC immer die Anregung an die Aktivisten aus Afrika ein Forum zu gestalten. Die Antworten waren zunächst zögerlich, unsicher. Also gab es 2006 ein dezentrales Forum in Caracas, Bamako und Pakistan – was wiederum zu anderen Erfahrungen über das Forum selbst führte. Nachfolgend gab es Bestrebungen in Marokko oder Kairo. Dort gab es auch lokale Foren. Immer ging es dabei zunächst im nationalen politischen Kontext den ‚Raum‘ für ein solches Forum zu schaffen und Beziehungen untereinander auszubauen.4 Warum erzähle ich das? Der Prozess des Forums ereignet sich parallel zu dem, was in den einzelnen Ländern geschieht.

Der Einfluss des Forums liegt in dessen Idee, aber auch der Hoffnung und Aufmerksamkeit, die er den dortigen Organisationen verleiht. Wir sind erneut in Afrika. Einerseits sind die globalen Herausforderungen in Afrika dieselben wie anderen Orten der Welt. Aber man kann auch sagen, dass Afrika mehr gelitten hat aufgrund der Sklaverei, der Deportation von Millionen Menschen, in einer Zeit, in der die Entwicklung der ländlicher Gemeinden auf eben jene Arbeitskraft angewiesen war. Auch heute noch ist Afrika einer der Kontinente, wo die Ausbeutung, nicht nur der Arbeitskräfte, sondern auch der natürlichen Ressourcen, erschreckend ist. Man denke nur an die Minen oder die aktuelle Entwicklung des Landgrabbing“.

Findet es statt, ist das Forum ein Lernraum für Demokratie, ohne Hierarchien und Autoritarismus. Das lässt sich auch anhand von Kleinigkeiten in der Vorbereitung und Organisation dieses Forums feststellen. Solch eine Erfahrung zu machen, ist ein Schritt, um das Bewusstsein und die autoritären Entwicklungsprozesse hier in Afrika zu verändern. Außerdem ist das Forum ein Ort, um Netzwerke zu bilden, ein Ort des Austauschs von Wissen, Erfahrungen und Kompetenzen, der Vermittlung praktischer Kenntnisse sowie der Unterstützung von Leuten, die sich in sozialen Kämpfen engagieren.

Wie wirkt sich das Forum auf die institutionelle Politik aus? Gerade in Brasilien, wo es gegründet wurde, wird ihm ein maßgeblicher Einfluss zugesprochen.

Gewiss beeinflusste das Forum die Wahl des Präsidenten Lulas damals in 2002. Nicht direkt, aber indem es den sozialen Kämpfen und Organisationen neue Hoffnung brachte. Allerdings wurde Lula nicht nur durch die von den Organisationen und Bewegungen ausgehenden Kräfte gewählt. Im Gegenteil, er wurde ja gerade gewählt, weil er Zugeständnisse an das System machte. Gerade die ärmsten Bevolkerungsschichten sind doch im Grunde extrem konservativ, sie wollen nichts ändern, sondern auch Konsument werden und die herrschenden Werte reproduzieren. Die regierende Arbeiterpartei (PT) hat die Idee struktureller Veränderungen vollkommen aus dem Blick verloren und agiert wie eine Firma, die ein Land ökonomisch zu optimieren sucht.

Ich erzähle dies, um zu veranschaulichen, dass das Forum in einem Zusammenhang mitspielt in welchem viele andere Faktoren eine Rolle spielen und welcher eine eigene Dynamik besitzt. Das Forum kann zwar einen Prozess anregen, aber es kann nicht alle Aspekte beeinflussen. Ein weiteres Beipiel ist dieses Forums in Senegal: Zur Eröffnung hat Lula ein extrem konservatives, kapitalistisches Agrarmodell für Afrika vorgeschlagen. Der hiesige Präsident hat uns mit den Worten begrüßt „Ich bin gegen euch“. Auf deren Haltung hat das Forum keinen Einfluss.

Ein anderes Beispiel ist die Revolution in Tunesien und Ägypten. Dort hatte das Forum keinerlei direkten Einfluss – zumindest bis jetzt nicht. Was die Menschen dort empörte, war einerseits die Korruption, das Fehlen eines Mindestmaßes an Demokratie und die Ignoranz gegenüber deren Probleme. Und der Auslößer war ein Jugendlicher der Mittelklasse ohne Perspektive. Was hat das mit dem Forum zu tun? In dem Maße, in dem Leute an einem Forum teilnehmen, lernen sie sich über das gegenwärtige System und die Welt, wie sie heute ist, zu empören. Sie sehen, dass es andere Möglichkeiten und unterschiedliche Modelle gibt. Außerdem zeigen wir, dass Demokratie notwendig ist. Andererseits muss das Forum selbst aus solchen Ereignissen lernen, dass eine Gesellschaft, die bereit für die Revolution ist, sich von selbst auflehnt. Unsere Aufgabe kann nur die Vorbereitung oder Unterstützung sein.

Das Forum gibt es jetzt seit mehr als 10 Jahren. Wie hat sich die Welt, der Kontext des Forums, seither verändert? Wie sollte es reagieren?

Von der Perspektive der sozialen Kämpfe ausgehend, gab es bedeutende Veränderungen. Eine davon ist das wachsende ökologische Bewusstsein. Die ökologischen Problemen stehen weltweit im Fokus vieler Debatten. Es gab politische Erungenschaften wie in Lateinamerika. Bolivien und Equador haben etwa das Konzept des „guten Lebens“ in die Verfassung aufgenommen. Das sind große Schritte, die jedoch in der Praxis noch nicht umgesetzt werden. Und obwohl viele Leute auf der Welt der Ansicht sind, dass wir unseren eigenen Planeten zerstören, suchen wir weiterhin Lösungen gegen den Klimawandel mit Marktmechanismen. Ständig wird betont, dass sich mit wachsender Wirtschaft auch der Gewinn auf alle ausdehnen würde. Aber während wir seit Jahrzehnten vergeblich darauf warten ist die Verteilung des Gewinns nicht gerecht. Den wirklich Armen geht es nicht besser. Aber Wirtschaftswachstum und Konsum wurde seither zu einer Art Grundbedingung unseres Wesens der wir die Bedürfnisse der Natur und der menschlichen Existenz unterworfen haben. Daran hat sich in den letzten 11 Jahren nichts geändert.

2008 kollabierte das Finanzsystem. Manche Leute hier behaupteten, dass sei das Ende des Kapitalismus, und er würde in Davos 2008 begraben werden. Meiner Ansicht nach hatten und haben wir viele und schwerwiegende Krisen wie etwa die Hungerkrise. Aber nun spricht die Welt von „der“ Krise und sei es nur durch das Eingeständnis, dass der Markt letztendlich weder im Stande ist seine eigenen Probleme noch die der Menschen zu bewältigen. Aber sehen Sie nur, wie diese Krise überstanden wurde. Die Banken erhielten Geld und viele Menschen verloren ihren Arbeitsplatz. Einerseits ist die Situation schlimmer als vor der Krise. Andererseits ist das System nun nicht mehr so selbstsicher. Zugleich aber müssen wir eingestehen, dass es im Großen und Ganzen noch nicht kollabiert ist und noch keine neue Wege eingeschlagen hat.

Je nach Perspektive hat sich die Welt im Grunde nur in einem Aspekt verändert. Die Terroranschläge des 11. Septembers und der darauffolgende Kampf gegen den Terror haben die Sicht auf Menschenrechte in unserer Welt komplett verändert. Auch solcher Degradierung unserer fundamentalen Rechte, versucht das Forum zu widerstehen.

Vor diesem Hintergrund sprechen wir über die Zukunft des Forums und über die aktuellen Debatten hier: Wir müssen tun, was eigentlich notwendig ist. In diesen 11 Jahren haben wir die Erfahrung gemacht, dass bei aller Vielfalt und Offenheit unser Zusammenhalt, unsere Einheit unerläßlich ist. Dieser Zusammenhalt wurde noch nicht überall erreicht. An manchen Orten ringen wir selbst immer noch um verschiedene, konkurrierende Ideologien. Sind wir schon eine Gemeinschaft? Sind wir selbst schon stark genug, um die Ideen der Anderen jenseits des Forums wirklich in Frage zu stellen? Sind wir in der Lage, die Gewissheiten der Leute, die von der Konsumkultur überzeugt sind, zu entzaubern? Haben wir die weltweit herrschenden Logiken bereits verändert? Nein. Solange uns das nicht gelingt, ist das Weltsozialforum notwendig. Wir brauchen diese riesigen Treffen.

Ich glaube auch nicht, dass wir auf dem Forum selbst schon für ein gemeinsames Ziel bereit sind. Haben wir schon ein gemeinsames Gegenmodell für eine andere Welt? Ich kenne es nicht und ich glaube nicht daran. Wenn wir uns umschauen, sehen wir, dass all die Kämpfe um Veränderungen sehr verschieden sind. Wir müssen daher die grundlegenden Prinzipien identifizieren, die diesen vielfältigen Prozessen zu Grunde liegen. Wir müssen uns auch fragen, wie wir die Reproduktion der bestehenden Strukturen vermeiden können, welche diese Prozesse generieren. In China treten Milliarden mehr Menschen in diesen Prozess von Produktion und Konsum ein. Der Rest der Welt ist darüber begeistert. Die globale Wirtschaft boomt, auch wenn die natürlichen Reichtümer mit jedem Mal schneller verbraucht werden und die Nahrungsmittelpreise immer schneller ansteigen.

Aber wer auf der Welt ist bisher davon überzeugt, dass eine andere Welt notwendig ist? Wer wäre bereit sein Leben und Handeln zu ändern? Den Leuten diese kulturelle Dimension unserer globalen Entwicklung näherzubringen, als eine Voraussetzung, um den gesamten Prozess zu beeinflussen, das ist sehr schwierig.Solange wir uns auf diesem Weg befinden, ist das Weltsozialforum nötig, um Hoffnung zu spenden.

Auf dem ersten Forum hat jede Organisation ihr eigenes Seminar angeboten. Inzwischen veranstalten zehn und mehr Organisationen gemeinsam Veranstaltungen. Das zeigt, dass das Forum seinen Sinn erfüllt. Ich habe in den letzten Jahren erlebt, wie sich starke und tiefgreifende Übereinstimmungen ausbilden. Aber wir brauchen mehr solcher Räume weltweit wo Menschen den Glauben finden, dass es möglich ist, diese Welt gemeinsam zu gestalten. Nur dann ist Veränderung möglich. Aber das Weltsozialforum ist nur ein einzelner Ort eines großen Prozesses.

Wir müssen lernen anders zu denken und das schließt auch ein, anders zu handeln. Dafür kämpft das Forum. Unsere Aufgabe besteht nicht darin auf die Straße zu gehen und zu protestieren. Die Menschen gehen in Tunesien, oder gegen die COP 17 in Durban oder gegen Rio+20 auf die Straße. Wie aber gelangen wir an den Punkt, auf einer grundlegenderen, kulturellen Ebene, die Werte die uns leiten, zu überdenken. Meiner Ansicht nach zielen die Seminare des Forums gemeinsam auf ein anderes Bewußtein über das Wesen unserer sozialen und kulturellen Entwicklung.

Vielen Dank Chico

1 Gerade die unterschiedlichen Entwicklungen, welche Ägypten, Libyen oder Tunesien aufweisen, zeigen, wie solche Umstürze neue Möglichkeiten der Entwicklung eröffnen, deren Richtung aber nicht eindeutig ist, nicht automatisch zur Verbesserung der Lebensumstände führt oder den Umgang mit der eigenen Regierung leichter werden lässt. Besonders Ägypten verweist auf das Problem, dass selbst wenn die Mehrheit der Bevölkerung sich gemeinsam gegen das alte System wendet, die Erwartungen an die neue Regierung gänzlich unterschiedliche und widerstreitende sind. (Siehe in Analogie die Herausforderungen des Forums in einem globalen Prozess).

2 Im Anschluss an das Forum 2011 wurde zunächst intensiv über ein nächstes Forum in Europa oder Nordamerika diskutiert. Konkret wurde das Angebot eines Forums in Montreal, Kanada, verfolgt. Letztlich war es die Idee der tunesischen Teilnehmer in Dakar, selbst zu einem Forum nach Tunesien einzuladen.

3 Mit dem Angebot aus Tunesien begann ein Dialog mit dem International Council des WSF. Dieser drängte beispielsweise darauf mehr Organisationen und Bewegungen in die lokale Organisation einzubinden. Erst nachdem die starken Gewerkschaften in Tunesien zusagten das Forum mitzutragen, gab es die Zustimmung durch den IC. Darauf folgte ein vorbereitendes, regionales Forum in Monastir im Juli 2012, als Netzwerk und Vorbereitungstreffen, vor allem aber auch, um mit den unterschiedlichen Beteiligten die Form des „offenen Raums“ zu erproben. Gemeinsam mit dem IC wurden verschiedene Arbeitsgruppen eingerichtet um Beispielsweise die Finanzierung sicherzustellen. Im Herbst 2012 kam es letztlich zu einem Treffen einer Delegation des IC mit der Regierung in Tunis, um die politischen Rahmenbedingungen zu sondieren, dessen Unterstützung zu gewinnen und die Rolle des Forums gegenüber Regierungen klarzustellen. (Vergleiche auch, das nachfolgende Beispiel Indien)

Ein vertiefender Bericht über die Kontroversen und Überlegungen im IC angesichts des Forums in Tunis von Roland Cameron findet sich unter: http://www.fsm2013.org/en/node/160.

Das Bekenntnis der Organisatoren in Tunis zu den Prinzipien des WSF, vom 16. Februar, und die Ankündigung von etwa 1500 Veranstaltungen von über 4000 Organisationen, Netzwerken und Bewegungen findet sich unter: http://www.fsm2013.org/en/node/7269.

4 Bereits zu Zeiten Mubaraks gab es in Ägypten intensive Bestrebungen für regionale Foren und eine stärkere Anbindung an den Prozess des Weltsozialforums. Diesen wurde entweder repressiv oder mit taktischen Zu- und kurzfristigen Absagen von politischer Seite begegnet. Entsprechend wurden damals auch Ideen für ein Weltsozialforum in Kairo wieder zurückgezogen.

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